Die Idee dieses Albums: anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls zeitlose DDR-Kinderlieder zu veröffentlichen. Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler suchten das von ihnen interpretierte Lied selbst aus. Die Mitwirkenden wiederum sprach der ausführende Produzent Dirk Mahlstedt spontan an. Dabei folgte er auch Empfehlungen. „In 75 Prozent der Fälle lag ich richtig“, sagt er und verrät: „Wegen des straffen Produktionsplanes zwischen Anfang April 2019 und der ersten Masterabgabe Mitte Juli 2019 mussten einige Künstler absagen, die gern dabei gewesen wären.“ Jüngere Stimmen fehlen. Aus nachvollziehbaren Gründen: Wer nach dem Mauerfall geboren wurde, kann oder konnte sich mit dem Liedgut nicht identifizieren.
„Der Eierbecher“ in der Version von Dirk Zöllner stimmt ein in den „Soundtrack der Kindheit“, wie Herausgeber Christian Hentschel die Sammlung beschreibt. Dieser Sinnsuche-Song stammt wie zwei weitere Lieder des Albums von Reinhard Lakomy († 2013), dessen „Traumzauberbaum“ auch heute viele Kinder begeistert. Das Keimzeit Akustik Quintett hat sich Gerhard Schönes „Die Alte auf der Schaukel“ zu eigen gemacht. Nun mutet es nicht unbedingt wie ein Kinderlied an – es kann Generationen verbinden. Wenn Katharina Franck „Sind so kleine Hände“ singt, wird klar: das Ost-West-Ding darf man nicht so ernst sehen. Bekanntlich ist die frühere Rainbirds-Frontfrau in Düsseldorf geboren. Darum geht es aber auch nicht. Die Gastsängerin beim „Club der toten Dichter“ hat einen familiären Bezug zum bekanntesten Lied von Bettina Wegner, einen sinnlichen sowieso – ihre zerbrechliche Version des so wichtigen und zeitlosen Songs berührt sehr. Uschi Brünning hat sich Lakomys lyrische „Mondsilbertaufe“ ausgesucht. Ein fast verschollenes Werk hat Bayon reanimiert. Max Dauthendeys Gedicht „Der Frühling“ war 1983 schon einmal mit dem mobilen Rundfunkstudio der DDR vertont worden. Für „So lebst du“ wurde das Stück neu aufgenommen und erstmals veröffentlicht.
Das titelgebende Lied der Sammlung stammt von Frank Schöbels „Komm, wir malen eine Sonne“. Die erste Kinderplatte der DDR war im Jahr 1976 erschienen. „Hier lebst du“ ist ein neu zu entdeckender Evergreen, dessen Seele die Schauspielerin Katrin Saß eindrucksvoll spüren lässt. „Kleine weiße Friedenstaube“ kannte in der DDR jedes Kindergartenkind. Geschrieben hat es eine Kindergärtnerin im Jahr 1949. Die auf das Cover gedruckte Kurzgeschichte des 70 Jahre alten Liedes erzählt davon. Für Sänger Dirk Michaelis ist das vorab als Single ausgekoppelte Lied „für Jung und Alt auf der ganzen Welt auch heute noch ein unverzichtbares Statement für den Frieden.“ Eindrücklich mit Kinderchor.
Frank Schöbel entschied sich – nein, nicht für „Komm, wir malen eine Sonne“ – sondern für „Tokei-ihto“. Warum? Weil der schlagerhafte Song bei Veranstaltungen oft gewünscht werde. Text-Zitat: „Deine Träume werden leben…“ Einen Kontrast setzt Bürger Lars Dietrich mit der „Geschichte vom fernsehverrückten Frank“, entschlossen wie ein Marsch und überhaupt nicht aus der Zeit gefallen. „Ohweiohweiohwei“. Die swingende Katzenstory über „Mary Lou“ stammt ebenfalls aus dem „Traumzauberbaum“ und wird beschwingt von Angelika Mann interpretiert. Was erwartet man von Karat? Wahrscheinlich nicht unbedingt ein Schlaflied. Genau deshalb haben sich die Rocker „Leise, Peterle, leise“ vorgenommen. Kinder werden es mögen. „Sandmann, lieber Sandmann“ kommt ohne Gesang aus. Die Stübaphilharmonie erinnert mit einer orchestralen Version an den beliebten ostdeutschen Abendgruß. Es ist das kürzeste Lied des Albums, dessen zwölf Stücke eine Gesamtspielzeit von 34 Minuten haben.
Angekündigt als „Streifzug durch die Welt der Kinderlieder des Ostens“ vereint die CD weniger bekannte Songs und Melodien im ungewohnten Gewand. Dazu Stimmen, die selten im Radio gespielt werden. Nostalgiker werden möglicherweise enttäuscht sein, Musikentdecker werden sich freuen. „So lebst du“ lädt zum Zuhören ein. Vermutlich eher Erwachsene, obwohl die Scheibe für Kinder ab fünf Jahren empfohlen wird. Aber das lohnt sich zu testen.
Hier lebst du. Unsere liebsten Kinderlieder, Argon Verlag, 2019 mit: Bayon, Uschi Brüning, Bürger Lars Dietrich, Club der toten Dichter, Karat, Keimzeit Akustik Quintett, Angelika Mann, Dirk Michaelis, Katrin Sass, Frank Schöbel, STÜBAphilharmonie und Die Zöllner.
Die CD erscheint am 25. Oktober 2019.
rezensiert im Oktober 2019