Hinter der Tür

Zufällig hätte ich das frühere Gemeindehaus mit riesigem Garten nie entdeckt. Es liegt im brandenburgischen Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Abseits großer Straßen, in einem Dorf mit knapp 60 Einwohnern – für die einen Pampa, für die anderen Idylle. Man sieht dem Gebäude an, dass es Jahrzehnte leer stand. Nun saniert es eine Familie, um es zu einer kreativen Begegnungsstätte umzugestalten. „Unser Millionengrab“, lacht die Initiatorin, wenn sich regelmäßig herausstellt, dass eine beendete Baustelle zehn neue nach sich zieht. Doch auch hinter dieser Fassade verbergen sich Geschichten. Sie sind unspektakulär, aber ein Beispiel dafür, wie Wissen verloren geht, wenn sich Umstände rasant ändern.

„… und hier war früher das Arztzimmer.“ Ich horche auf. Im Obergeschoss, das man über eine morsche Wendeltreppe erreicht, führt eine Doppeltür in ein winziges Kämmerchen. Unregelmäßig geschnitten und verwinkelt, kaum mehr als fünf Quadratmeter groß. Immerhin hat es ein Fenster. Wie sollen in diesem Kämmerchen Sprechstunden stattgefunden haben? Fotos oder andere Dokumente sind nicht überliefert.

Hinter der Doppeltür: die ehemalige Dorfpraxis auf 5 m2.

 

Doch es gibt jemanden, der darüber etwas erzählen kann: Ursula Schwarzwald, Jahrgang 1933. Sie arbeitete zunächst als Sekretärin im Gemeindeamt und war von 1964 bis 1997 Bürgermeisterin im brandenburgischen Blankenberg. Nominiert vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). Nach der Wende ehrenamtlich. 35 Jahre lebte die 86-Jährige in dem Haus, mit Mann, zwei Kindern und zwei anderen Familien, eine davon hatte sechs Kinder. Für 13 Personen gab es eine Toilette.

Managte mehr als 30 Jahre ein brandenburgisches 200-Seelen-Dorf: Ursula Schwarzwald.

 

Die Gemeindeverwaltung nutzte ein Zimmer. Einmal monatlich fand dort Mütterberatung und Impfsprechstunde statt. Als die Mütterberatung in die Kinderkrippe umzog, wurde es zum Sprechzimmer. „Wir waren ein kinderreiches Dorf und der erste Ort weit und breit, der eine Kinderkrippe bekam“, erinnert sich Ursula Schwarzwald. Anfang der 1950-er Jahre lebten rund 200 Einwohner in Blankenberg. Die Kinder kamen mit dem Bus auch aus den Nachbardörfern, ein Auto hatten nur wenige. Kinder mit Behinderungen wurden auch aufgenommen. „Es war ein richtiger Sonnenschein da.“ Die Eltern lieferten Obst und Gemüse, es wurde selbst gekocht. Die Küche versorgte die alten Leute im Dorf mit. „Ich könnte platzen, wenn man heute so tut, als sei so etwas neu“, sagt sie und bedauert: „Vieles ging Hand in Hand, das ist heute nicht mehr so. Sie brauchten die Türen nicht abzuschließen, es passierte nichts.“

Nach langem Leerstand ein Sanierungsfall: die Gemeindeverwaltung Blankenberg (OPR).

 

Der Arzt kam anfangs einmal in vier Wochen, dann alle zwei Wochen, immer donnerstags. Jeden Montag war eine Krankenschwester vor Ort. Bezahlt wurde die Praxis von der Gemeinde. „Wir hatten alle den gleichen Arzt, er war für alles Medizinische zuständig. Dr. Fuchs war sehr beliebt. Es war viel los, wenn er da war“, erzählt Marlies Wahrenburg, die Tochter von Ursula Schwarzwald. Die 59-Jährige lebt heute noch in Blankenberg. Das Sprechzimmer war spartanisch eingerichtet: Schreibtisch, Liege, Stühle, Regale. Ein Waschhocker, später ein Waschbecken. Platz für einen Medizinschrank gab es nicht. „Der Doktor brachte in seiner Tasche die Medikamente mit und die Gemeindeschwester kam aus der Nachbargemeinde mit Moped oder Fahrrad – wirklich so, wie Sie es von Schwester Agnes aus dem Fernsehen kennen“, sagt Ursula Schwarzwald. Gerlind hieß Blankenbergs letzte Gemeindeschwester. „Eine ganz Tüchtige war das“, lobt die langjährige Bürgermeisterin.

Sie hat auch einen Abschluss für Bibliothekswesen und vereinbarte früher neben ihren Amtsgeschäften die Termine für die einmal wöchentlich ins Dorf kommende Friseurin. „Es gab viele Versammlungen, da hat niemand gefragt, wie Sie da hinkommen“, sagt sie. „Manchmal fuhr ich mit dem Fahrrad nach Kyritz, 15 Kilometer, auch im Winter, aber Angst hatte ich nie.“ Der Zusammenhalt in der Gemeinde sei phantastisch gewesen. Einmal wöchentlich ging die Bürgermeisterin zu den Alten, die nicht mehr wegkamen. „Im Sommer fuhren wir mit dem Trecker zum Badesee. Wir haben viele Feste gefeiert, bei denen auch Auszeichnungen überreicht wurden. Da ging es weniger um Geld, mehr um Wertschätzung“, sagt sie.

Über 30 Jahre Bürgermeisterin in Blankenberg: Ursula Schwarzwald (re.), hier mit Tochter Marlies Wahrenburg.

 

Nach der Wende zogen mehr als zwei Drittel der Bewohner aus Blankenberg weg, Häuser wurden verkauft. Die Arztpraxis in der Gemeindeverwaltung wurde geschlossen. „So was Altes brauchte man nicht mehr“, sagt Ursula Schwarzwald lakonisch. Wo das dürftige Mobiliar abgeblieben ist, kann sie nicht sagen. Zum Hausarzt mussten die Dorfbewohner nun nach Wusterhausen/Dosse fahren, zu Fachärzten in die umliegenden größeren Städte. In der 5.800-Einwohner-Gemeinde, die keine Stadt werden wollte, lebt die 86-Jährige heute. Hier hat sie ihren Club, in dem sie Karten spielen, Gymnastik machen oder sich unterhalten kann. Dass sie es zum Arzt nicht weit hat, ist ihr wichtig.

Das Gebäude, das viele Jahrzehnte ihr Zuhause war, ist nun in Privatbesitz. Ursula Schwarzwald freut sich, dass es auch zukünftig ein Treffpunkt für Dorfbewohner bleiben soll. Aber an Geschichten wie die vom Arztzimmer würde sich niemand erinnern, wenn sie nicht bewahrt werden. Seit die langjährige Bürgermeisterin vor über 20 Jahren in den Ruhestand ging, interessierte sich noch niemand dafür. Sie beklagt sich nicht darüber.

In letzter Zeit wird immer wieder gefragt, was ostdeutsche Lebensleistungen überhaupt seien. Über drei Jahrzehnte Dorfleben unter Bedingungen zu organisieren, die sich heute kein Stadtbewohner mehr vorstellen kann, gehört auf jeden Fall dazu. Hinter den Türen warten noch viele Geschichten.

Bei Wikipedia hat Blankenberg (OPR) als einer von 22 Ortsteilen von Wusterhausen/Dosse immerhin einen Eintrag, jedoch keinen Inhalt. Überregional erwähnenswert ist, dass der Orgelbauer Albert Hollenbach (1850–1904) hier geboren wurde. Ein erhaltenes barockes Gutshaus aus dem 18. Jahrhundert befindet sich heute in Privatbesitz und kann z.B. zum Tag des offenen Denkmals besichtigt werden. Einmal alle zwei Jahre zieht das Dorf Tausende Besucher an: beim seit 1998 veranstalteten Treckertreffen des Traktoren- und Freizeit-Vereins.

 

Fotos: Dagmar Möbius

 

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