759 debattierte Kabinettsvorlagen, 143 von Lothar de Maiziere unterschriebene Verordnungen und 96 in der Volkskammer beschlossene Gesetze – das ist die Bilanz der letzten DDR-Regierung. Sie amtierte 173 Tage und schaffte sich selbst ab.
Der 2010 veröffentlichte Dokumentarfilm „Der Beitritt – Die letzte Regierung der DDR“ ruft in 45 Minuten in Erinnerung, welch rasante politische Entwicklung zwischen Frühjahr und Herbst 1990 in der ehemaligen DDR vor sich ging. Der immense Zeitdruck, der auf allen politisch Verantwortlichen lastete, wird spürbar. So sieht man die Volkskammerpräsidentin, Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU), gestresst zu Terminen hasten. Die Ärztin im höchsten Amt der DDR gibt zu, nach der zweiten Sitzung des Parlamentes ans Aufgeben gedacht zu haben.
Es sei um den bestmöglichen Weg zur Deutschen Einheit gegangen, bestätigen mehrere der damals amtierenden Minister oder Staatssekretäre. Ministerpräsident Lothar de Maziere (CDU) sagt im Film: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden“ und verwendet sogar das Gleichnis des Abendmahls.
Es ist von einvernehmlichen Arbeitstreffen die Rede, aber auch davon, dass Bonn der Maßstab der Entscheidungen war. So wollte die BRD eine schnelle Währungs- und Wirtschaftsunion, auch um die massenhafte Zuwanderung von Ostdeutschen in den Westen zu stoppen. Die Diskussionen um den Umrechnungskurs der DDR-Mark in D-Mark klingen aus heutiger Sicht kleinlich (es war ein Umrechnungskurs von 1:10 im Gespräch). Während es den Westdeutschen um eine stabile Währung und Immobilienfragen (immerhin mehr als zwei Millionen Fälle!) ging, setzte sich der Parlamentarische Staatssekretär Günther Krause nach eigenen Worten für die Anerkennung der Lebensleistung der Ostdeutschen ein. Der später durch diverse justiziable Vorkommnisse umstrittene Politiker sagt in der Dokumentation: „Es ging uns um eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion – die Sozialunion haben wir dazu diskutiert.“ Letztlich habe Helmut Kohl „keine wirtschaftliche, sondern eine politische Entscheidung“ favorisiert.
Dass die letzten Volksvertreter der Deutschen Demokratischen Republik mehrere Staatsverträge mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland schlossen, wird heute angesichts des alleinig präsenten Einigungsvertrags oft ausgeblendet. Warum die Geduld für eine geordnete Wiedervereinigung fehlte, wird erinnert. Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Richard Schröder bezeichnete die DSU-Forderung zum sofortigen Beitritt als „Sturzgeburt“.
Die Dokumentation verlässt sich nicht auf parlamentarische Protokolle. Sie lässt auch Menschliches zu. So ist zu erfahren, warum zwischen Lothar de Maziere und Helmut Kohl keine Männerfreundschaft entstand. An Entlassungen von DDR-Ministern „wegen Unfähigkeit“ wird erinnert. Wenig Schlaf und ein ungesundes Leben im Zeitraffer aller Beteiligten bleiben hängen. Mangelnde Zeit ist ein wiederkehrendes Argument. Nach dem Beitrittsbeschluss der Volkskammer bleibt der DDR-Regierung wenig Spielraum, ihre Forderungen durchzusetzen. „Bonn setzt sich im 2. Staatsvertrag mit nahezu allen Forderungen durch. Den DDR-Verhandlungsführern gelingt es lediglich, die Anerkennung ostdeutscher Berufsabschlüsse festzuschreiben“, so eine Stimme aus dem Off. Von Studienabschlüssen ist nicht die Rede, ob diese mitgemeint sind, bleibt offen.
Ein Satz von Lothar de Maziere kann als Schlusswort gelten: „Politik ist immer die Kunst des in der realen Situation Machbaren.“
Dieser historische Rückblick auf die Umstände vor 30 Jahren ist wichtig. Details sind in Vergessenheit geraten oder waren weniger politisch interessierten Bürger*innen vielleicht nie bekannt. Möglicherweise motivieren sie auch zu nötigen (weiteren) politischen Korrekturen.
Der Beitritt – Die letzte Regierung der DDR. Eine Gemeinschaftsproduktion der Heimatfilm GbR mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg, gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, 2010. Die 2. Auflage der DVD (2013) ist gegen eine Schutzgebühr über die Bundesstiftung Aufarbeitung erhältlich. Sie enthält umfangreiches didaktisches Material für den Unterricht der Sekundarstufen I und II.
rezensiert im Oktober 2019