Ein leerstehendes Ärztehaus. Wer hier vorbeikommt, will in den Schmetterlingspark, zur Fachschule Seefahrt oder zum Sassnitzer Hafen. Aushänge an den Fenstern verraten, dass in dem solide wirkenden Gebäude nicht mehr praktiziert wird. Aber warum und ist es für die Gesundheitsversorgung für immer verloren?
Die letzte, im Haus befindliche Hals-Nasen-Ohren-Praxis zog Ende November 2021 aus. Das war für die Region so bemerkenswert, dass die Ostseezeitung berichtete: Das Haus ist sanierungsbedürftig. Vor allem die Heizung sei nicht mehr zu retten, wird der neue Eigentümer zitiert. Trotz Bemühungen des Bürgermeisters und der örtlichen Wohnungsbaugesellschaft fand das niedergelassene Mediziner-Paar keinen geeigneten Ersatz in der Nähe. Die Sassnitzer müssen für eine fachärztliche HNO-Behandlung nun mehr als 20 Kilometer nach Bergen auf Rügen fahren.
Militärverwaltung, Lehrlingswohnheim, Betriebsambulatorium
Was könnte das Gebäude alles erzählen?
Autor und Gästeführer Ralf Lindemann, der seine historischen Exkursionen zur Ruine des 1948 gesprengten Schlosses Dwasieden regelmäßig am ehemaligen Ärztehaus in der Straße der Jugend beginnt, weiß, dass es früher ein Verwaltungsgebäude der Marine war. Das bestätigt Frank Biederstaedt vom Stadtarchiv Sassnitz. In den 1930-er Jahren wurde die Marine-Garnison in Dwasieden entwickelt, die Standortverwaltung befand sich im späteren Ärztehaus.
1950 zogen 112 Lehrlinge des VEB Ostseefischerei Mecklenburg ein, verrät die Chronik der Sassnitzer Hochseefischer. Später wurde das Lehrlingswohnheim zum Betriebsambulatorium umfunktioniert. Die „Eröffnung einer Bettenstation im Ambulatorium des VEB Fischverarbeitung“ im Jahr 1957 ist belegt.
Für viele Jahre Ambulatorium, Poliklinik, Ärztehaus
Ab 1967 hielt die damals 31-jährige Kinderärztin Helga Bartsch Sprechstunden im Ambulatorium. Nach dem Medizinstudium in Berlin und Magdeburg hatte sie in Bergen auf Rügen ihre zweijährige Ausbildung absolviert. „Chirurgie, Innere Medizin, Wahlfach und Ambulanz, dann wurde man richtig Arzt“, erzählt die heute 86-jährige am Telefon. „Es fehlten Ärzte, viele waren in den Westen gegangen. Ich wollte immer an die See und habe es nie bereut.“ Die poliklinischen Abteilungen waren über die ganze Stadt verteilt. Die Chirurgie befand sich im Krankenhaus. Ein Allgemeinmediziner saß im Zentrum, einer in der Straße der Jugend. In der 1979 rekonstruierten Poliklinik praktizierten auch Frauenärzte, Zahnärzte, ein Labor. „Ärzte für Augen, HNO und Orthopädie gab es früher nicht in der Stadt“, erinnert sich die Kinderärztin. Viele ihrer früheren Kolleg*innen leben nicht mehr, bedauert sie.
Immer Trubel
Mit zwei Krankenschwestern kümmerte sich die Kinderärztin um die ambulante Gesundheitsversorgung der jüngsten Sassnitzer. In den 1960-er Jahren gab es noch zweijährig ausgebildete Sprechstundenhilfen, weiß sie. Deren Ausbildung genügte für die Anforderungen einer Kinderarztpraxis nicht. Nachdem 1974 das Fachschulstudium für Sprechstundenschwestern eingeführt worden war, hospitierten zwei Sprechstundenschwestern bei Helga Bartsch. Was aus ihnen geworden ist, kann sie leider nicht sagen.
Aber: „In Sassnitz wimmelte es von Kindern“, lacht sie, „auf der Straße fuhren noch nicht so viele Autos. Es gab viele junge Familien. Fischer, Armee- und Zollangehörige.“ In die umliegenden Orte fuhr sie zur Mütterberatung – jeweils einmal im Monat. Für ihre Promotion blieb neben ihrer ärztlichen Tätigkeit und ihrer eigenen Familie keine Zeit. „Es war immer Trubel“, sagt Helga Bartsch. Bis 1992 arbeitete sie in dem fortan Ärztehaus heißenden Gebäude. In die ehemaligen Räume der Kinderarztpraxis zogen HNO-Fachärzte.
Nach der Sanierung Wohnhaus, vielleicht mit Physio-Praxis
Das Haus an der Straße der Jugend hat in rund neun Jahrzehnten vieles erlebt. Nach der jetzt geplanten Sanierung sollen Wohnungen entstehen. Ob eine physiotherapeutische Praxis einzieht und damit die Gesundheitshistorie nicht endet, ist derzeit noch offen.
Fotos: Dagmar Möbius (3/2022)
11. Mai 2022: Der Beitrag wurde auf Wunsch von H. Bartsch geringfügig gekürzt.