In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit. Rückblicke.
Das im September 2019 erschienene Buch wurde Spiegel-Bestseller. Vieles ist darüber gesagt und geschrieben. So viel, dass es auf der to-read-Liste lange Zeit weit unten rangierte. Drei prägnante Sätze auf dem Buchrücken machten dann doch neugierig. „Alles ging demokratisch und mit rechten Dingen zu. Eine schöne Mär, behauptet Diestel. Er muss es wissen: Er war dabei.“ Peter-Michael Diestel, promovierter Jurist, hat den Beitrittsprozess als Vizepremier und letzter DDR-Innenminister begleitet.
Bodenständig und provokant
„Der Zeitzeuge als Feind des Historikers“ – am Zitat eines Biografen arbeitet sich der Autor gleich im ersten von 17 Kapiteln ab. Er schreibt faktenreich und gleichzeitig flüssig, würzt mit Provokationen. Die DDR-Nationalhymne als Klingelton auf dem Handy? Das traut man gerne Linksdenkenden zu oder Menschen, die in unkritischer Ostalgie schwelgen, aber einem Mitgründer der Deutschen Sozialen Union und bekennenden Christen?
Diestel kann das kaum treffen. Der 1952 auf Rügen geborene Offizierssohn weiß, woher er kommt und er steht zu seinen Wurzeln. Sein Lebenslauf vom Facharbeiter für Rinderzucht zum Politiker und Rechtsanwalt wäre filmreif und ist wohl kaum als „typisch ostdeutsch“ zu bezeichnen. An der Persönlichkeit mögen sich andere abarbeiten. Menschen, denen man (noch) nie persönlich begegnet ist, kann man damit nur Unrecht tun.
Warum gelten alle Ostdeutschen als Kommunisten? Weshalb wird Diestel niemals eins seiner Bücher in der Potsdamer Staatskanzlei abgeben? Und welcher große Staatsmann respektierte schweigend, dass Heimweh die Übernahme eines Bonner Ministeriums verhinderte?
Haltung zu Geschichte
Es gibt zahlreiche Episoden im Buch, die therapeutisch gegen historische Ignoranz und Geschichtsvergessenheit eingesetzt werden sollten. Auf jeden Fall aber für das Training kritischen Hinterfragens. Eine Kunst, die manchen gebürtigen DDR-Bürger*innen nicht zu gelingen scheint oder zu anstrengend ist. „Geschichte ist Geschichte. Man kann sie nicht ungeschehen machen, wohl aber eine Haltung zu ihr haben“, schreibt Diestel. Die hat er, auch wenn sich viele daran reiben. Zwischen seinen Zeilen Humor, Selbstkritik, Stolz, Trotz. Nach jedem Kapitel schließt sich ein Statement von Politikern oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über Dr. Peter-Michael Diestel an. Unkommentiert.
Dem untergegangenen Land als Patient müsste man wohl eine Borderline-Persönlichkeitsstörung attestieren. Die Ambivalenz der Gefühle schildert Diestel wie es nur jemand kann, der all die Widersprüche erlebt hat. „Die DDR drückte jeden ans Herz, aber stieß ihn auch wieder von sich, der nicht lauthals bekundete, wie wohl er sich an der breiten Brust des Vaterlandes fühlte.“
Ironie des Schicksals
Schwarz-Weiß-Denken ist nicht seins. Er schaut genau hin und nennt beim Namen, was er unakzeptabel findet. Die Nichtanerkennung beruflicher Leistungen kennt er aus eigenem Erleben. Nicht nur Diestels Doktorarbeit wurde öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben. Man kann es Ironie des Schicksals nennen, dass ausgerechnet das Nachrichtenmagazin Diestels aktuelles Buch in der Bestseller-Liste veröffentlichen musste, dessen Schreiberlinge kurz nach der Wende augenscheinlich Meinung mit Fakten verwechselten und umstrittene „Weisheiten“ wie diese nur zu gern in den Ring warfen.
„Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologie, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. In den meisten Fällen fehlt heute vom Fachlichen eine Berufsperspektive in den Bereichen, in denen man ausgebildet wurde. Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.“
Echt jetzt?
Peter-Michael Diestel widerspricht auf seine Art. Anders, als man es von einem Juristen erwartet. Verständlich, deftig, informativ. Das – wie andernorts beschrieben – als zornig zu empfinden, ist Geschmackssache. Mit ihm gelegentlich vorgeworfener Selbstgefälligkeit oder Drang zum Höheren, kokettiert er eher. Im Sinn von „Arroganz ist Niveau von unten.“ Und das ist dann schon wieder ein Kompliment.
Dieses mit Fotos und einem Personenregister ergänzte Werk ist ein Biografie-, Geschichts- und Streitbuch. Danke dafür.
Peter-Michael Diestel , In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit. Rückblicke , Das Neue Berlin (Eulenspiegel Verlagsgruppe), ET: 17.09.2019, 288 Seiten, ISBN: 978-3-360-01338-5.
rezensiert im Dezember 2020